Säuglingsheim

Lingner wurde 1897 Vorstandsmitglied im Verein Kinderpoliklinik mit Säuglingsheim in der Johannstadt, der aus der 1894 von Schloßmann begründeten Kinderpoliklinik hervorgegangen war. Das Hauptanliegen des Vereins bestand in der Senkung der Säuglings- und Kindersterblichkeit.

Lingners Anschauungen zur Rassenhygiene, welche durch sozialdarwinistisches Gedankengut beeinflusst waren, lassen unter anderem verstehen, warum sich gerade ein Kaufmann für Säuglingspflege engagierte. Seiner Meinung nach entscheidet sich die “Güte” einer Rasse in deren Wirtschaftsmacht, die es ermöglicht, andere Rassen zu unterdrücken, “denn nicht nach Gleichgewicht, sondern nach Übermacht strebt jede Rasse, das liegt in ihrer Natur ... eine Rasse, die nicht nach Übergewicht strebt, ist von vornherein schon zur Unterordnung verdammt”. Um in diesem Wirtschaftskampf bestehen zu können “ist es vor allem erforderlich ... die drohende Degeneration aufzuhalten. Bei uns Deutschen ist es besonders die ungeheure Säuglingssterblichkeit und der auffällige Rückgang der Geburtenhäufigkeit”. Unter der nationalsozialistischen Diktatur wurde die sozialdarwinistische Rassenhygiene zur Leitideologie der öffentlichen Gesundheitspflege erhoben und die Sozialhygiene als Leitwissenschaft zerschlagen.

Zu den Mitbegründern des Vereins zählte auch Prof. Friedrich Renk (1850-1928), Inhaber des Lehr­tuhls für Hygiene an der Technischen Hochschule und Leiter der Zentralstelle für Öffentliche Gesundheitpflege.

Im Herbst 1893 kehrte der Kinderarzt Dr. Arthur Schloß­mann (1867-1932) von Berlin nach Dres­den zurück, wo er seine Kind­­heit und Jugend­jah­re ver­bracht hatte. Am 1. März 1894 eröffnete er in sei­ner kinderärztlichen Praxis, Pfotenhauer Straße 26, eine pri­vate Poliklinik für Säuglinge und Kinder. Die Pri­vat­­klinik Schloßmanns “gewährt armen, kran­ken Kin­dern un­ent­­geltlich ärztliche Behandlung, im Fal­le der Noth auch freie Arzneien und Heilmittel. Der or­di­­nie­ren­de Arzt [Schloß­mann] wird von Al­ber­­ti­ne­rin­nen unterstützt und hält seine Sprech­­stunde da­selbst Dienstags, Donnerstags, Sams­tags von 1/2 10 Uhr bis 1/2 11 Uhr vormittags ab” . Die Er­öff­nung einer Kinderpoliklinik zur un­ent­­geltlichen Be­hand­lung und ko­sten­losen Bereit­stel­lung von Medi­ka­men­ten in Notlagen war ein­­malig in Dresden und zeu­gt vom sozialen Einsatz Schloß­manns. Zusätzlich rich­­tete er eine Kindersprech­stun­de für Zahn- und Mund­­krankheiten mittwochs 17-18 Uhr ein, die der Hofzahnarzt Dr. Otto Torger übernahm. Bereits 1895/96 musste Schloß­mann seine Sprech­stun­de von drei auf sechs Wo­chen­stun­den erweitern.

Am 20. Dezember 1897 gründete Schloßmann ge­mein­sam mit Ärzten und Dresdner Bürgern den Ver­ein Kinder­po­li­kli­nik mit Säug­lingsheim in der Johannstadt, der die Einrichtung auf der Pfotenhauer Straße weiterführte. Die Vereins­grün­dung ermöglichte die Erweiterung und die finanzielle Ab­sicherung der Kinderpoliklinik. Noch im glei­chen Jahr konnten innere und chirurgische Sprechstunden ein­ge­richtet wer­den. Als Vorsitzender des Vereins fungierte Com­mer­zien­rath Consul The­o­dor Menz. Zum Vorstand gehörten ne­ben Schloß­mann der Direktor der Königlichen Frauenklinik Prof. Ger­hard Christian Leopold (1846-1911), der Rektor der Kö­­nig­lich Technischen Hochschule, Prof. Ernst von Meyer (1847-1916) und der Direktor des Hygiene­in­sti­tutes der Kö­nig­lichen Tech­nischen Hochschule, Prof. Renk. Lingner gehörte als stell­ver­tretender Schatz­mei­­ster ebenfalls dem Vorstand an. Wie der Kon­takt zwi­schen Lingner und Schloßmann zustande kam, bleibt eine Vermutung. Schloßmann beschäftigte sich seit 1893 im Laboratorium der Chemischen Abteilung der Tech­ni­schen Hoch­schule Dresden mit der Chemie der kindlichen Nah­rungs­mit­tel. Lingners Freund Sei­fert arbeitete bis 1885 in dieser Ab­teilung. Er könn­te Lingner 1896/97 auf diese Abtei­lung aufmerksam gemacht ha­ben. Hier wurde durch die Privatdozenten Schloß­­mann und von Walther (ebenfalls Mitarbeiter der Che­­mi­schen Ab­teilung) das Desinfektionsmittel “Gly­ko­formal” ent­wic­kelt. Die­­se Substanz gehörte neben ei­nem Desin­fek­tions­ap­pa­rat zum Fertigungsprogramm der Desinfektionsabteilung der Ling­ner-Wer­ke. Durch diese Zusammenarbeit könnte Schloß­­mann Ling­­ner für die Mitarbeit im Verein Kin­der­po­li­kli­nik mit Säug­lingsheim in der Johannstadt interessiert ha­ben. Be­­rich­te, wo­nach Lingner als Stifter der Kin­derpoliklinik und des spä­te­ren Säuglingsheim gilt, können nicht be­stä­tigt wer­den. Die Mit­arbeit im Verein ermöglichte Lingner den Kontakt zu bekannten Wissenschaftlern und Ärz­ten. Er verstand es, unter ihnen Mitarbeiter (zum Beispiel Renk, Schloß­­mann, Galewsky) für seine ge­meinnützigen Zie­le zu ge­win­nen.

Am 1. August 1898 eröffnete der Verein Kinder­po­li­­klinik mit Säuglingsheim in der Johannstadt die welt­­­weit erste statio­nä­re Behandlungsstätte für erkrankte Säuglinge im er­sten Stock der Ar­nold­str. Nr. 1. In einem Brief an den Rat zu Dres­den von 1899 schilderte der Verein seine Zie­le: So will er arme und kranke Kinder unentgeltlich be­­­han­deln, die Pfle­ge kranker Säuglinge ge­währleisten, Säug­lings­pfle­ge­rinnen aus­bil­den, die Ver­­­­­sorgung mit guter und reiner Milch erleichtern und kontrollieren sowie “durch Belehrung und Hül­fe mit Rath und That die Kinder- und Säuglings­sterb­lich­keit he­rab­zusetzen su­chen”.

Die Säuglingsklinik begann ihre Arbeit 1898 mit fünf Bet­ten und konnte in diesem Jahr 89 Kinder bei 2.112 Ver­­­pfle­gungs­ta­gen behandeln [166]. Bereits 1899 kam es zu einer Er­wei­te­rung auf 18 Betten und es konnten 153 Kinder mit 5.347 Ver­­pfle­gungs­tagen betreut werden, im Jahre 1900 waren es 264 Kinder mit 7.283 Verpfle­gungs­tagen. Auch die Kinder­po­li­klinik, eben­­falls seit 1898 auf der Arnoldstraße 1, er­fuhr ab 1899 eine Er­weiterung um Sprechstunden für Hals-Nasen-Oh­ren-Krankheiten und für Haut­­­erkran­kun­­gen. Als Ärz­te arbeiteten Dr. Schloß­mann (diri­gie­­ren­der Arzt), der Kinderarzt Dr. Richard Flachs (1863-1947), die Chi­rurgen Dr. Trautmann und Dr. Zunge, der Haut­arzt Dr. Galewsky und die Zahnärzte Kühnast und Pet­ri (bis 1898 die Zahnärzte Hille und Nissen). Die stund­enweise an­­ge­stell­ten Ärzte ar­bei­te­ten neben­be­ruf­lich und unentgeltlich in der Kin­der­po­li­­klinik. Eine Neuerung Schloßmanns wird 1899 in einem Brief des Ver­eins als “besondere Einrichtung für le­bens­schwache und früh­­­geborene Kinder” bezeichnet. Nach seinen Angaben wur­den im Säug­lings­heim Wärmeeinrichtungen für die Behand­lung von Früh­geborenen gebaut. Für Transporte kamen trag­ba­re Wärmekisten zum Einsatz. Es handelte sich da­bei of­fen­sichtlich um die Vorläufer unserer Inku­ba­to­ren. Außerdem be­­schäftigte sich Schloßmann mit Fra­­gen der Antiseptik bei der Pflege gesunder und kran­­ker Säuglinge sowie mit Des­infek­tions­­­­maß­nah­men. Zu den Aufgaben des Vereins Kinderpoliklinik mit Säug­lings­heim gehörte seit 1899 die Ausbildung von Säuglings­schwe­­stern. In einem einjährigen Lehrgang, der unter anderem sechs Wochen allgemeine Kran­ken­pfle­ge, acht Wochen ge­burts­hilf­liche Station und vier Mo­na­te “Ausbildung in der Pflege von In­fek­tions­­krank­­hei­ten” am Kaiserin-Friedrich-Kinder-Kran­ken­­haus in Ber­lin beinhaltete, wurden die zukünf­ti­gen Säuglings­schwe­stern unterrichtet. Bereits 1899 befanden sich fünf jun­ge Mädchen in Aus­bil­dung. Im Jahr 1902 waren es dann schon 14 Schülerinnen. Die Kin­der­poliklinik mit Säug­lings­heim wurde vorerst als rein soziale Einrichtung durch Spen­den be­trie­ben. Ne­ben der Krankenbehandlung und Schwe­stern­aus­bil­dung widmete sich der Verein auch wissen­schaft­li­chen Fra­ge­stel­lungen. Aufgrund der Er­kennt­nis, dass die mei­sten Erkran­kun­gen des ersten Lebensjahres und damit die hohe Säug­lings­sterb­lich­keit auf un­ge­nü­gende oder falsche Ernährung zu­rück­zu­führen sind, richtete der Verein bereits 1897 “ein mit allen Hilfs­­mitteln der modernen Chemie und Bak­te­riologie aus­­ge­rü­ste­tes Laboratorium” ein.

Schloßmann, der seit 1893 im Laboratorium der Che­mi­schen Abteilung der Technischen Hoch­schu­­le Dresden die Che­mie der kindlichen Nah­rungs­mit­tel wissenschaftlich unter­such­te, verfolgte zwei Zie­­­le: Einerseits analysierten er und seine Mit­arbeiter die zur Säuglingsernährung verwendeten Rohstoffe auf ihre hygienische Unbedenklichkeit hin, ande­rer­seits führte Schloßmann Untersuchungen auf dem Ge­biet der Säuglings­er­näh­rung und Säuglings­krank­hei­ten durch. Im Ergebnis dieser Untersuchungen stell­te das Säuglingsheim Säug­lings­fer­tig­nahrung “fix und fertig zum Gebrauch und zwar in Ein­zel­por­tions­flaschen, individuell für jedes Kind geeignet” her. So konn­ten 1898 mehrere Tausend Flaschen zum Selbst­ko­­sten­preis von 30 Pfennig pro Tag verkauft werden. Schloß­mann forderte und praktizierte als er­ster in Deutschland die aus­schließ­liche Ernährung kran­ker Säuglinge mit Frauenmilch. Dazu or­ga­ni­sierte er gemeinsam mit Prof. Leopold das Am­men­we­sen in Dresden. In der Königlichen Frauenklinik wur­­den die in Frage kommenden Wöchnerinnen aus­ge­wählt und als Ammen mit ihren Kindern im Säug­lings­heim aufgenommen. Aus der Betreuung dieser ge­sunden Kinder durch das Säug­lings­heim ging eine der ersten Mütterberatungsstellen in Deutsch­­land her­vor.

In seiner 1908 erschienenen Schrift “Betrach­tun­gen über die Säuglingsfrage mit dem Vorschlage für die Organisation einer Landes-Zentrale für Säuglings­pfle­ge und Mutterschutz in Hes­sen” setzte sich Ling­ner mit Fragen der Säuglingssterblichkeit aus­ein­an­der. Dabei griff er Erkenntnisse der Kinderpoliklinik mit Säuglingsheim auf und vertrat auch die Schloß­mann­’schen Ernährungsprinzipien für Säug­lin­ge und stellte die Vorteile der Frauenmilch für die Säug­­lingsernährung dar. Neben falscher Ernäh­rung benannte Lingner die so­zi­a­le Armut als Haupt­ur­sa­che der Säuglingssterblichkeit, er verwies auf die “üblen Wohnverhältnisse” in Arbeitervierteln, den so­­zia­len Zwang zur Arbeit von Schwangeren und Wö­ch­ne­rin­nen und auf die Mittellosigkeit einfacher Frau­en mit une­he­li­chen Kin­dern. Zur Verbesserung dieser Si­tuation dachte Ling­ner an die Ein­richtung von Wöch­­nerinnen-Asylen durch die “Pri­­vat­wohl­tä­tig­­keit”, an die Verschärfung gesetzlicher Be­stim­mun­gen über die Beschäftigung schwangerer Frauen und an die Ein­­be­zie­hung der Krankenkassen zur Unterstützung von Schwan­­geren und Wöchnerinnen.

Lingner hatte sich bereits 1905 mit Fragen der Er­nährung auseinandergesetzt. Emil von Behring (1854-1917) entwickelte zu dieser Zeit die von Tuber­kel­ba­zil­len freie Perhydrasemilch. In der 1940 von Zeiss/Bie­ling veröffentlichten Behring-Bio­gra­phie heißt es da­zu: “Die Erfindung war vom wirtschaft­li­chen Stand­­­punkt aus untragbar. Aus diesem Grunde ist es auch ver­ständ­lich, dass August Lingner ... sich be­reits im Jahre 1905 den Plä­nen Behrings gegenüber ab­lehnend verhielt.”. Das In­teresse Lingners für die Arbeiten Behrings erscheint insofern bemer­kens­wert, da dieser die Blutserumtherapie entwickelte und 1901 für die Herstellung eines Diphtherieserum den No­bel­preis für Medizin erhielt. Das 1911 von Ling­ner begründete “Sächsische Serumwerk und In­sti­tut für Bakteriotherapie” be­fasste sich auch mit diesem Verfahren.

Neben Fragen der Säuglings­er­näh­rung beinhaltet Ling­ners Denkschrift von 1908 einen Vor­schlag zur Or­ganisation einer Landes­zentra­le für Säug­­­lings- und Mut­terschutz in Hessen. Die Idee zum Auf­bau die­ser Zentrale ging vom Großherzog von Hes­sen aus, mit dem Lingner freundschaftlich ver­bun­den war. Auch bestärkte Schloß­mann Lingner “in sei­ner sy­ste­ma­tischen Arbeit zum Be­sten der Aufzucht ge­sunder Kin­der”. Die Landeszentrale soll­te als Stif­tung auf­gebaut werden und alle vorhandenen und noch zu pla­nenden Maßnahmen der Säuglings­für­sor­ge ordnen und zusammenführen. Die finanziellen Mit­tel zum Auf­bau der Zen­trale sollten über Spenden ei­nes “Pa­tro­nats-Vereines” und durch regelmäßige Bei­trä­ge kom­munaler Behörden erbracht wer­­den. Zur Er­fül­lung der Aufgaben der Zentralstelle dachte Ling­ner an die Bildung von Ausschüssen (zum Beispiel Ausschuss für Milch­­wesen, Ausschuss für Wohnungshygiene, Aus­­schuss für In­du­­striewesen, Ausschuss für sta­ti­sti­sche Er­he­bungen). Ent­sprechend einer Veröf­fent­li­­chung des Sächsischen Landes­ge­sund­­heitsamtes von 1922 hatte Lingners Denkschrift “eine nicht un­we­­sentliche Rolle beim Zustandekommen des säch­­si­schen Gesetzes über die Wohlfahrtspflege vom 30. Mai 1918 gespielt” und die Ausführungsverordnungen vom 4. Feb­ru­ar 1919 inhaltlich beeinflusst. So wurden plan­mäßig und flä­chen­deckend Mütter­bera­tungs­stel­len eröffnet und den neuge­grün­­deten Wohlfahrts­äm­tern angegliedert. Entsprechend den Aus­­führungen Ling­­ners erfolgte nun der Ausbau der offenen Säuglingsfürsorge, “deren Grundgedanke ja die Förderung und Si­cher­­­stel­lung der natürlichen Ernährung des Kindes ist”.

Aufgrund zunehmenden Platzmangels und stetig stei­gen­der Pa­tien­tenzahlen bemühte sich der Verein Kin­der­poliklinik mit Säug­lingsheim bereits 1901 in einem Ge­such an die Stadt Dres­den um einen Neubau. Der Verein erstellte ein Neu­bau­projekt und erwarb eine entsprechende Baustelle (Kreuzung Für­­sten­stra­ße/Pfotenhauer Straße). Damit hätte sich die geplan­te Klinik in unmittelbarer Nähe zum 1901 eröffneten Jo­hann­städ­ter Krankenhaus und der neuen Königlichen Frau­­en­klinik be­funden. Die baupolizeiliche Genehmi­gung zur Er­rich­tung einer Säuglingsklinik (Fläche 584 m²) und einer Po­li­kli­nik (Flä­che 455 m²) konnte er­langt werden. Ein ent­spre­chen­der Finanzplan, Ling­ner war seit 1902 Schatzmeister des Ver­eins, wurde er­stellt und erste Geldmittel erbracht. In einem Re­chenschaftsbericht des Vereins von 1902 wird über ein­­getroffene Spenden berichtet, so zahlten Menz, Schloß­mann und Lingner mit jeweils 2.000 Mark die höchsten Beträge ein. Auch Nichtmitglieder, so der bekannte Photograph Walter Hahn (1889-1969), un­terstützten den Verein. Für die Er­stel­lung der jähr­lichen Bilanz des Vereins nutzte Lingner sein Pri­vat­­sekretariat in den Lingner-Werken. Trotz der weit­rei­chenden Vorbereitungen zum Neubau einer Säug­lings­klinik lehnten die Stadt­verordneten von Dresden am 20. November 1902 den Neu­bau ab. Als Gründe wur­den eine zu große An­steckungs­ge­fahr in derar­ti­gen Einrichtungen, die Trennung Kind-Eltern, die Ge­fahr der Verwendung von Kindern als Ver­suchs­ob­jek­te, eine genügende Anzahl von Armenärzten und fi­nan­­zielle Schwie­rig­keiten angeführt. Bei dieser Ein­schätzung blieben die Er­folge des Säuglingsheimes of­fensichtlich unberücksichtigt. Mit 25,6 Prozent, bezogen auf 406 erkrankte Säuglinge, erreichte das Säug­lings­heim 1902 eine vergleichsweise geringe Säug­lings­sterb­­­lichkeit. In der Säuglingsabteilung der Cha­rité be­trug diese 74,7 Prozent (1892-1896), und im Kin­der­krankenhaus Leip­zig wurde 1900 eine Säuglings­sterb­lichkeit von 64,6 Prozent re­gi­striert. Auch die 1903 erfolgte Erweiterung der Kapa­zi­tät im Säug­lings­heim auf 23 Betten konnte den Bedarf nach Be­hand­lungs­plätzen in keiner Weise decken, was zu einer stän­­di­gen Überbelegung der Einrichtung (über 40 Kin­­der) führte. In einem Brief des Vorstandes des Ver­eins vom 18. Juni 1903 an den Rat zu Dresden heißt es: “In einer Sitzung des Gesamt­vor­standes [des Ver­eins] vom 16. Juni ist einstimmig beschlos­sen worden, mit Ende des Jahres 1903 die Ver­eins­tä­tig­keit ein­zu­stellen, wenn uns nicht inzwischen von seiten der Stadt­­ge­meinde für die Zwecke unseres Säuglingsheimes eine ge­eignete Unterkunft und damit Sicherheit für das Wei­ter­be­ste­hen des­sel­ben geboten ist”.

Sicher wäre es zur Schlie­ßung des Säug­lingsheimes gekommen, wenn nicht ein Vorgang im Deut­schen Reichstag unverhofft Hilfe gebracht hätte. Der so­zial­­de­mo­kratische Abgeordnete Otto Friedrich Wilhelm Antrick (1858-1932) wies 1902 im Reichstag auf Unzulänglichkeiten in Kran­kenhäusern hin. In Folge dessen führte das Reichsamt des Innern ent­spre­chende Revisionen durch, bei denen auch das Säug­­­­lingsheim in Dresden beurteilt wurde. Der nun zu Ta­ge tre­­­­tende Platzmangel (43 Kinder in 23 Betten und einem Kom­mo­­denkasten) sowie die daraus folgende Beeinträchtigung der Hy­giene wurden im Ergebnis der Revision festgestellt. Der Rat zu Dresden beschloss daraufhin am 11. Juli 1903, zur “Er­mie­­­tung eines Grundstückes das Erforderliche in die Wege zu lei­ten”. Über ein Zeitungsinserat konnte der Verein das Mehr­­­familienhaus Wormser Straße 4 mieten. Hier setz­te der Ver­­ein Kinderpoliklinik mit Säuglingsheim in der Johannstadt am 1. Januar 1904 seine Tätigkeit fort. Es standen 50 Betten für jähr­lich 600 Kinder zur Ver­fügung. Im Keller des Ge­bäu­des befand sich die Hausmannswohnung sowie der Ob­duk­tions­raum. Im Ostflügel des Erdgeschosses waren die Poliklinik, die Rönt­gen-Abteilung, ein OP-Zimmer und auch ein Raum für or­tho­pädische Übungen untergebracht. Die Aufnahme, die Labo­ra­­torien und die Ärztewohnungen befanden sich im Westflügel des Erdgeschosses, die Verwaltung sowie ein Isolierzimmer wa­ren im ersten Stock, Kranken- und Ammenzimmer im zweiten Stock, Schwesternwohnungen, die Milchküche und die Wä­sche­rei im dritten Stock untergebracht.

Ab 1905 unterhielt das Säuglingsheim noch eine Wald­sta­tion im Albert-Park der Dresdner Heide. Hier konnten chronisch kranke Kinder be­han­delt werden, um so für eine Ent­lastung der Klinik zu sorgen. Die erheblichen Kosten für die Ermietung des Ge­bäudes Wormser Straße 4 sowie die lau­fen­den Be­triebs­­ausgaben wurden durch freiwillige Spenden und jähr­­­lich feste Beiträge der Stadt Dresden und durch die Ein­nah­men des Säuglingsheimes (40.000 bis 50.000 Mark pro Jahr) ge­deckt. Obwohl die Stadt Dres­den die jährliche Unterstützung auf 5000 Mark er­höh­te und die Mietkosten von 9.500 Mark pro Jahr über­­nahm, musste der Verein Kinderpoliklinik mit Säug­­­lings­heim erhebliche Fehlbeträge verzeichnen, zu de­ren Dec­­kung der Verein nicht in der Lage war. Um die Fort­führung des Säuglingsheimes zu gewähr­lei­sten, über­­nahm die Stadt Dres­den am 1. Januar 1907 die Anstalt mit Ausnahme der Po­li­kli­nik. Zur For­tführung der Poliklinik wurde der Verein Kin­der­po­liklinik mit Säuglingsheim in der Johannstadt in den Verein Kinderpoliklinik in der Johann­stadt umgewandelt. Die Lei­­tung des Säuglingsheimes wurde der Verwaltung des Stadt­kran­­ken­hau­ses Jo­hann­stadt übertragen. Bereits 1907 er­öff­­nete ei­ne Beratungsstelle des Säuglingsheimes zur unentgeltlichen Un­­ter­weisung “Unbemittelter” in Fragen der Säug­lings­­­­ernäh­rung und Säuglingspflege. Nach dem ersten Welt­krieg wur­den hier zusätzlich Wand­er­lehrerinnen des Deut­schen Hy­giene-Mu­se­ums aus­ge­bildet. Über Lingners weitere Aktivitäten im Verein Kin­der­poliklinik ist nur wenig bekannt. 1907 unterstützte er die Präsentation des Säug­lingsheimes auf Ausstel­lun­gen in Berlin und London durch Photographien aus seinem Privatbesitz. 1908 wur­de Ling­ner stell­vertretender Vorsitzender des Vereins und war im sel­­ben Jahr als Mitglied im Ehrenkomitee der “All­ge­mei­­nen Aus­stel­lung für Säuglings- und Kinderpflege” in Solingen ver­treten.

Nach dem Tod des lang­jäh­rigen Vorsitzenden Menz im Jah­re 1910 über­nahm Lingner den Vorsitz des Ver­eins, den er bis zu sei­nem Tode 1916 inne hatte. Für junge Mütter führte der Verein ab 1910 Un­ter­richts­kurse in der Säuglingspflege durch, bei denen sozial Schwa­che nur eine Mark für zehn Unterrichtsstunden zu zah­len hatten. Der normale Preis betrug 15 Mark. Wesentliche Anregungen für Ling­ners weiteres so­zia­les Wir­ken lassen sich auf Kontakte und Er­fah­run­gen mit Mitgliedern des Vereins Kinderpoliklinik mit Säug­­­­lingsheim in der Jo­hann­stadt zurückführen.

Kinderpoliklinik mit Säuglingsheim in der Johannstadt